• Stutzäsen, Potthast und ein Urzeit-Dackel
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Die Löwen von Lemgo

Löwengebrüll in der Lemgoer Innenstadt – für viele Jahre war das tatsächlich ganz und gar nicht ungewöhnlich. Umso außergewöhnlicher war allerdings die Frau, zu deren Leben die Löwen gehörten und die Tausende von Menschen in ganz Europa und Asien mit spektakulärer Unterhaltung zu begeistern wusste: Die bekannte und vielfach ausgezeichnete Dompteuse Dora Friese.

Als Dorothea Sewald wurde sie 1883 in Bayern in eine Schaustellerfamilie hineingeboren. Zu dieser Zeit zog die Familie Sewald mit einem Kasperltheater durch die Lande, später hatten sie zudem ein Marionettentheater und ein Kettenkarussell dabei. Ihr Geld verdienten die Sewalds meist auf Märkten und Volksfesten, manchmal kam auch ein privates Engagement dazu. Mit ihren Eltern, drei älteren und einem jüngeren Bruder lernte Dora Sewald so das Schaustellergeschäft von der Pike auf.

Dora Friese in zünftiger Kleidung

Dass sie nicht nur willensstark und durchsetzungsfähig war, sondern auch wusste, was sie wollte, bewies Dora Sewald schon als 19-jährige: 1903 heiratete sie Emil Friese – für die damalige Zeit eine Ehe mit Skandalcharakter. Nicht nur war Emil Friese 23 Jahre älter als Dora, er war auch noch evangelisch und noch dazu ein Preuße! Diese Hindernisse hielten Dora und Emil Friese aber nicht von ihrer Entscheidung füreinander ab.

Emil Friese entstammte ebenfalls einer Schaustellerfamilie. Seine Menagerie hatte er von seinem Vater geerbt und war nun mit Löwen, Leoparden, Panthern, Eisbären, Affen, Krokodilen, Schlagen und Papageien unterwegs. Dora Frieses Einfühlungsvermögen war für das Geschäft sehr förderlich, sie kam mit den Tieren gut zurecht und führte bald selbst eine Raubtiergruppe vor.

Das bloße Angucken von gefährlichen Tieren war für viele Zuschauer nicht genug. Durch den geschickten Einsatz von Belohnungen und Strafen wurden die Tiere trainiert und lernten Dressurnummern. Ein Vorteil war, dass die Tiere in dieser Zeit nicht aus der freien Wildbahn kamen, sondern in Zoohandlungen erworben wurde. Meist waren sie seit ihrer Geburt in Gefangenschaft und so an Menschen gewöhnt. Den Zuschauern wurde das freilich nicht verraten. Und der Umgang mit den Raubtieren war und bliebt trotz dieser mildernden Umstände sehr gefährlich. Deshalb lernte  Dora Friese sorgfältig und gründlich, die Tiere zu dressieren und eigene Nummern zu präsentieren.

Bei der Arbeit mit den Tieren war es wichtig, ein gutes Gespür für jedes einzelne Tier zu entwickeln. Die Tiere mussten für gemeinsame Vorführungen aneinander gewöhnt werden. Trotzdem kamen nicht alle Tiere kamen miteinander aus. Manchen Tieren war vorab nicht anzusehen, wenn sich ihre Laune verschlechterte und so kamen ihre Angriffe plötzlich und unvermittelt.

Dass Frauen als Dompteusen im Mittelpunkt standen, war zur damaligen Zeit wohl nicht ungewöhnlich. Zu den Aufgaben von Dora gehörten aber nicht nur Vorführungen, sie erklärte auch dem Publikum alles Wissenswerte zu den Tieren, wie ihre Herkunft und ihre Eigenarten, und sie hatte die Tiere zu versorgen. Nach einiger Zeit übernahm sie eine Aufgabe ihres Mannes, das Anlocken des Publikums zu den Vorstellungen. Mit ihrem Menschenverstand und Verkaufssinn vermochte sie ein größeres Publikum anzuziehen.

Die Familie zog mit ihrem Tross von Ort zu Ort. Ihr Geld verdienten sie mit den Besuchergruppen der Menagerie und mit den Vorstellungen. Diese dauerten etwa eine halbe Stunde und fanden mehrmals täglich bis in den späten Abend statt. Manche Tiere wurden auch in Schulen oder bei wohlbetuchten Menschen vorgeführt, beides brachte Geld ein.

Im Winter fanden die Frieses ihr Winterquartier in Lemgo. In den Winterpausen wurden auch die beiden Söhne der Frieses, Alexander und Sam, geboren. Neben ihren beruflichen Pflichten musste sich Dora nun auch noch um die beiden Kinder kümmern. Dann heiratete auch Camilla, die Schwester von Emil Friese, und somit fiel Dora zusätzlich der Haushalt zu.

Doras Talent war groß und so auch der Erfolg ihrer Show. Wenige Jahre nach ihrer Hochzeit konnten die Frieses ihr Geschäft modernisieren. „Frieses größte Löwen- & Tigerdressurschau der Welt“ wurde um eine Dampfmaschine ergänzt, die Strom erzeugen und gleichzeitig als Trecker genutzt werden konnte. Doras Talent sprach sich herum, sodass sie auch im Zirkus und Varieté engagiert wurde. Sogar nach Russland verschlug es sie. Für ihre herausragende Arbeit verlieh der russische Zar Dora einen Orden.

Dora Frieses Leitspruch war „Leicht ist der Tadel, gefährlich diese Kunst!“

Nach der deutschen Kriegserklärung im August 1914 wurden Doras Mann und ihr Bruder noch in Russland als potentielle Staatsfeinde festgesetzt. Das Geld, das sie mit ihrer russischen Tournee verdient hatte, musste Dora nun nutzen, um ihren Mann freizukaufen. Zudem waren in den Kriegsjahren Schaustellungen nicht mehr möglich. Frieses Tierschau blieb jetzt auf dem Schützenplatz in Lemgo. Schon seit 1906 hatten sie dort stets ihr Winterquartier bezogen, seit dem Ausbruch des Kriegs war es nun ihre feste Heimat. Die Familie zog in ein Haus am Hohen Wall. Auf dem Hof war genug Platz, um die Tiere unterzubringen und die Wagen abzustellen.

Trotz des Krieges gelang Dora 1915 ein Gastspiel in Schweden und ein Jahr später eines im Zirkus Hagenbeck. Die beiden Engagements waren aber nicht genug, um ausreichende Einnahmen einzubringen. Ihre Rettung war für die Frieses deshalb der Kinematograph, den sie sich gemeinsam mit einem Lemgoer Freund angeschafft hatten. Aus einem Zelt, einer Leinwand und dem Kinematographen wurde so Lemgos erstes Kino.

Nach dem Krieg ging es dem Schaustellergewerbe nicht gut, viele Familien hatten ihr Geschäft aufgeben müssen. Auch die größer werdende Anzahl von Zoos machte den Schaustellern zu schaffen, weil die Leute ihr weniges Geld lieber dort investierten. Frieses hatten es zwar dank ihres Kinematographen leidlich durch den Krieg geschafft, aber da es auch immer mehr Kinos gab, suchten sie eine alternative Einnahmequelle, die sie zusätzlich zu ihren Tieren mit auf die Reise nehmen konnten: Sie fanden die Lösung in einer Berg- und Talbahn (auch bekannt als „Musik-Express“ oder „Raupe“) sowie einem „Teufelsrad“ – ein Vergnügen für alle, denen schnelles Drehen Nichts ausmachte.

1927, im Alter von 66 Jahren, starb Doras Mann Emil. Die Familie führte den Schaustellerbetrieb zunächst weiter. Doch Anfang der 30er Jahre kam für die Frieses ein großer Einschnitt: Sohn Alexander, mittlerweile um die 30 Jahre alt, wurde beim Füttern der Löwen ein Arm abgerissen. Der Unfall belastete die Familie sehr und sie verlagerte den Schwerpunkt ihrer Ausstellungen auf Schlangen, Krokodile und Schimpansen.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedeutete dann das endgültige Ende der nun-Lemgoer Menagerie Friese. Doras Sohn Sam und ihr Bruder wurden eingezogen, Sohn Alexander ging mit seiner Familie nach Hamburg, Dora ließ sich in Lemgo nieder. Die meisten Tiere wurden verkauft, Doras Lieblinge aber durften bei ihr bleiben. Die Affen zogen mit ins Haus und auch Eisbär Beppi wohnte mit am Hohen Wall. Und für einige Zeit erfüllte auch noch das Gebrüll der Löwen die Nachbarschaft.

Ein gemächlicher Ruhestand kam für Dora Friese nicht in Frage, Langeweile kannte sie auch in Lemgo nicht. Sie kümmerte sich alleine um Haus, Tiere und Garten, machte Handarbeiten, las und hatte für ihre Gäste natürlich auch zahlreiche Anekdoten aus ihrem ereignisreichen Leben parat.  Den Respekt der Nachbarn und der Lemgoer Gesellschaft verschaffte sie sich mit ihrer geradlinigen und praktischen Art. Ab Mitte der 1950-er Jahre lebte Doras Enkeltochter Leni meist bei ihr, so konnte das Mädchen in Lemgo zur Schule gehen und musste nicht mit ihrer Familie reisen.

Von dem, was sie wollte, ließ sich Dora Friese bis ins hohe Alter nicht abhalten. Mit Mitte 70 schlug sie sich beim Holzhacken mit der Axt den Daumen ab – und ließ ihn sich im Krankenhaus ohne Betäubung wieder annähen. 1965, im Alter von 81 Jahren, starb Dora Friese an Altersschwäche. Sie wurde auf dem Familiengrab beigesetzt, für das sie zum Tod ihres Mannes einen steinernen Löwen hatte fertigen lassen. Der Löwe wacht noch heute über das Grab und erinnert an das Leben einer ganz und gar außergewöhnlichen Frau.

Ein Steinlöwe auf dem Grab der Familie Friese

Quelle: Brünink, Ann/Grubitzsch, Helga (Hrsg.) „Was für eine Frau!“ Portraits aus Ostwestfalen-Lippe. 2. Auflage, 1993. Bielefeld.

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